"Miami Vice": Ein amerikanischer Art-déco-Traum (2024)

Eine Kolumne von Matthias Kalle

Farbfernsehen gibt es seit 1967 in Deutschland, erst 1986 lief jedoch eine Show, die etwas damit anfangen konnte. "Miami Vice" revolutionierte den Look des Serien-TV.

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Manche Menschen gucken Fernsehen, weil dort die Bundesliga läuft, weil man Heizdecken bestellen und sich nachts mit Hitler-Dokus die Träume verderben kann. Nicht Matthias Kalle. Unser Kolumnist guckt Fernsehen, weil er die Welt verstehen will – und verrät in seiner Kolumne "Kalle guckt", was man wirklich gesehen haben muss, um allen Lebenslagen gewachsen zu sein. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 11/2023.

Ich schaue wirklich immer sehr genau hin,aber ein paar Dinge leuchten mir dann doch nicht ein. Zum Beispiel hat voreinigen Wochen ein Magazin herausgefunden, wo man das Hemd kaufen kann, das derSchauspieler Pedro Pascal in The Last of Us trägt. Dabei ist The Lastof Us allerhand, aber keine Serie, bei der Modefragen in den Vordergrund drängen.Man kann schließlich schon wegen der Handlung – das Geschehen spielt 20 Jahrenach einer globalen Pandemie, die Menschen zu Zombies macht – davon ausgehen,dass die gezeigte Fashion auf dem Stand des Jahres 2003 ist und dieÜberlebenden andere Sorgen haben, als sich schick anzuziehen.

In anderen Serien ist das anders. DerOnlineklamottenhändler Boohoo will herausgefunden haben, welche Fernsehprojekteden größten Einfluss auf modische Trends hatten. Dafür wurden Google-Suchdatenanalysiert, also Begriffe, die im Zusammenhang mit Mode und Fernsehserienstehen. Demnach ist Euphoria die Show mit dem größten Einfluss auf Mode,gefolgt von Emily in Paris, Stranger Things, Peaky Blinders undFriends. Verblüffend ist Platz sechs, nämlich Bridgerton, eineSerie, die im Jahr 1813 spielt. Mir ist jedoch kein Moderevival bekannt, dasden Vormärz feiert.

Noch verblüffender ist indes, welcheSerien es nicht auf die Liste geschafft haben. Mad Men zum Beispiel, vondem es ja immer hieß, darin seien alle so gut angezogen, oder Sex and theCity, von dem es immer hieß, darin seien alle so teuer angezogen. Auch PatrikPacard vermisst man, denn soweit ich mich erinnere, wollten einmal alle zehnjährigen Jungs so aussehen wie Hendrik Martz in dieser ZDF-Weihnachtsserieaus dem Jahr 1984.

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Aber gut, wir konnten damals ja nichtwissen, dass nur zwei Jahre später eine Stilexplosion stattfinden sollte, vonder sich das Fernsehen nie wieder erholen würde. Am 6. Dezember 1986 lief inder ARD die erste Folge von Miami Vice (aktuell kostenpflichtigverfügbar bei Prime Video und Apple TV+) und veränderte beinahe unmittelbar dieArt und Weise, wie man Fernsehen schaute. Nie zuvor hatte das, was auf demBildschirm passierte, so gut ausgesehen. Aber wie kam es überhaupt dazu? AnthonyYerkovich, der zuvor die großartige Polizeiserie Hill Street Blues geschriebenund produziert hatte, saß im Büro von Brandon Tartikoff, damalsUnterhaltungschef des Senders NBC. Tartikoff gab Yerkovich einen Zettel, aufdem stand: "MTV Cops". Yerkovich verstand, was sein Chef wollte, underfand Miami Vice. Das Magazin People schrieb später, es sei dieerste Serie des Farbfernsehzeitalters gewesen, "die wirklich neu undanders aussah".

Das Neue und das Andere waren allerdingsweder Handlung noch Figurenzeichnung oder die Dialoge. Es waren die Kulissen,die Gefühle, die Coolness, der Style. Die Welt in Miami Vice sah aus wieein US-amerikanischer Art-decó-Traum, aus dem der Produzent Michael Mannjegliche Erdtöne verbannt hatte – Rot und Braun standen auf der, sorry, rotenListe. Aber das war nur Ausstattung, im Vordergrund agierten Sonny Crockett(Don Johnson) und Ricardo Tubbs (Philip Michael Thomas), verdeckteDrogenermittler, die aussahen, als hätte man die Serie um ihre Kleidung herumerfunden. Crockett trug unter seinen Sakkos T-Shirts (manchmal mit Knopfleiste),dazu Leinenhosen und Slipper ohne Socken. Alles war in Pastelltönen gehalten.Gegen die Sonne Floridas schützte er seine Augen mit einer Ray-Ban Wayfarer(Modell L2052). Außerdem hatte er einen Dreitagebart und wohnte zusammen mitseinem Alligator Elvis auf einem Segelboot.

Männer, die so aussahen und so lebten,hatte man bis dahin noch nie im deutschen Fernsehen gesehen – und dieKlamotten in Miami Vice nahmen uns damals auch die Angst vor demErwachsenwerden. Denn solange man sich anziehen konnte wie Sonny Crockett,würde es schon nicht so schlimm werden mit Lohnarbeit, Steuererklärung,Familiengründung und so weiter. Vieles von Crocketts Stil ist übrigenshängen geblieben, schauen Sie mal auf das Foto von mir oben rechts: T-Shirtunterm Sakko, keine Erdtöne.

Der Style der Serie war so dominant (undist es auch in der Rückschau noch), dass beinahe vergessen wird, wie MiamiVice auch einen anderen Ton setzte, im Guten wie im Schlechten. In denersten beiden Staffeln war dieser Ton leicht, danach wurde er schwerer,düsterer, manche Folgen waren von Zynismus geprägt und zeigten dieSinnlosigkeit mancher Polizeiarbeit. Vor allem für jene Folgen galt das, indenen sich die Handlung nicht auflöste, sondern einfach aufhörte, meistens mitdem Tod einer Figur. Aber weder die Macher noch das Publikum wussten damals sorecht, was sie von dieser Dunkelheit halten sollten, weshalb Miami Vice gegenEnde wieder heller wurde.

Es war also schon ein atmosphärischesDurcheinander mit Miami Vice, einer Serie, für die die Welt in den Achtzigerjahrenvielleicht noch nicht bereit war. Es war aber auch immer klar, dass dieMenschen nirgendwo besser angezogen sind.

"Miami Vice" ist bei Apple TV+und Prime Video verfügbar.

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